Michael Hüttenberger verdichtet bekannte Märchen

Ein Märchenbuch der etwas anderen Art. Mal völlig anders. So anders, dass man auf den ersten Blick von einem Märchenbuch gar nicht reden möchte. Langweilige Einstiege im Stil eines „Es war einmal…“ sucht man in der Sammlung von Michael Hüttenberger (66) vergebens. Als Germanist versteht der pensionierte Schulleiter sich darauf, über alles, was ihm über den Weg läuft, zu dichten und zu reimen. Warum also nicht mal bekannte Märchen, unter Zuhilfenahme der Reimtechnik, derart zu verkürzen, dass sie in einer Minute erzählt werden können? Hervorragend gelungen, kann man nur sagen, beim Blick in HüttenbergersGrimm‘schen Märchenverdichtungen, die im August als erweiterte Neuauflage seines seit 2016 vergriffenen Bestsellers „Komm mit, sagte der Esel“ erschienen sind. Dieses Mal als hochwertige Hardcover-Version und ansprechend-witzig neu illustriert, was die Lust auf Märchen schon weckt, bevor der erste Reim gelesen ist.

Die optische Untermalung stammt von dem jungen Talent Milena Breiter (25), die mit dem Skizzenbuch als ihr ständiger Begleiter nicht nur in ihrer Heimatstadt Bremen unterwegs ist. Anschließend geht die Illustratorin mit Tusche, Aquarell und Bleistift ans Werk, das ihr im vorliegenden Fall besonders gut gelungen ist. Man betrachte sich nur mal ihre „Musikantenpyramide“, die sie der Geschichte gewidmet hat, das sich in ihrer Wahlheimat abgespielt haben soll. Dagegen aufgeräumt, aber nicht minder kunterbunt, hat sie auf den Umschlag des Buchs eine Tierparade platziert, die gleich mehrere Märchen in sich vereint.

Es stimmt. Dargeboten werden Märchen, die jeder schon kennt – oder kennen sollte. Denn dies setzt Michael Hüttenberger geradezu voraus. Ohne zu wissen, dass das wilde Durcheinander aus Krähen, Bellen und Miauen der Bremer Stadtmusikanten einzig dem Zweck dient, um den Eindringlingen Angst einzujagen,geht es nicht. Hinzu kommt, wie sie sich dabei gebärden, was der Autor mit den vier Worten „Musikantenpyramide sorgt für Räuberzwangsabschiede“ nicht hätte kürzer und präziser auf den Punkt bringen können. Dies zeichnet ihn und alle seine Märchenverdichtungen aus, die mit elf Zweizeilern auskommen (müssen). Auch auf den Abschluss kommt es an, ganz im Sinne von: Die Moral von der Geschicht‘. Bei den Bremer Stadtmusikanten liest sich das gute Ende so: „Räuber nun final verjagt, Rentner bleiben, Haus behagt.“ Michael Hüttenberger setzt noch eines drauf, was mit „Alles gut!? Jetzt fehlt halt nur – Bremen die Musikkultur“ für sein satirisches Augenzwinkern steht, mit dem er sich an die Umsetzung seiner Art von Märchenerzählung herangemacht hat.

Hüttenberger weiß, dass es den allermeisten seiner Leser ebenso oder wenigstens ähnlich ergangen ist wie ihm. „Märchen haben mich schon immer beschäftigt, ob in der eigenen Kindheit, als Vater von zwei Kindern oder Lehrer in der Schule“, sagt er in der Gewissheit, Inhalte und Botschaften voraussetzen zu können. In seiner Kurzbiografie am Buchende kommt seine Nenntante zu Wort, „die ihm und seinen Schwestern gefühlt jeden Tag ein Märchen vorlas.“ Waren es, wie er weiterschreibt, die Tricks des tapferen Schneiderleins, die ihm zu billig erschienen, oder die Existenz eines zweiten, anderen Wolfs in Rotkäppchen, das sein Glaube an die Grundsätzlichkeit märchenhafter Happy-Ends erschütterte? Der Reiz liege darin, „ein bekanntes Märchen in einer Minute wiederzugeben“, sagt der Autor. Sein Anspruch, komplizierte Handlungen mit wenigen Worten zusammenzufassen, liest sich in der Bildsprache so: „Stroh zu Gold zu spinnen, ist metaphorisch betrachtet, das Ziel meines Schreibens.“ Seine Reime sind nicht linear verdichtet. Sie enden unterschiedlich. In seinem Vorwort zu den Märchenverdichtungen liefert er ein Vorgeschmack, was den Leser erwartet: „Eins und drei, vier, fünf, sechs, sieben, Märchen sind hier aufgeschrieben. Alle Wunder, Katastrophen, neu gefasst in kurze Strophen. Elf, mit je zwei Versen drin: kondensierter Märchensinn.“ Als Germanist versteht Michael Hüttenberger sich geschickt darauf, mit einem Vierheber den Leser bei Laune zu halten und selbst Märchen, die den Drang besitzen, sich nicht ohne Weiteres mit 22 Zeilen begnügen wollen, einzufangen.

Ein Beispiel: Was tun, wenn in „Frau Holle“ spätestens, wenn zur Mitte hin „regnets Gold auf Mädchen nieder“ auffällt, dass die faule Schwester noch nicht beim Namen genannt wird und die Geschichte aber längst noch nicht am Ende angekommen ist? Mit den Schlussworten „Doch weil schüttelunbegabt, hat sie ziemlich Pech gehabt“ hat Michael Hüttenberger alles Erdenkliche aus der Verdichtung herausgeholt, was menschenmöglich ist. Der Autor gibt auch preis, was ihn in den Jahren seines Aufenthalts und literarischen Schaffens in Ostfriesland umgetrieben hat, in denen die ersten und meisten Märchenverdichtungen entstanden sind.

Weil in Mundart (was an der Küste „Plattdüütsch“ heißt) geschrieben, tut sich der in Mittelgebirgen ansässige Leser mit der Wiedergabe des „Von dem Fischer un siner Frau“ etwas schwer. Wohl dem, der beim mehrmaligen Lesen ohne Wörterbuch auskommt. Bekanntlich fängt alles mit „Huus mut her, Pisspott macht krank“ an, was sich so steigern lässt: „Huus, Schloss, König, Kaiserin, ok noch Pabst kem her in’d Sinn“. Wohin dieses geführt hat, versteht jeder, wenn auch nicht jedes Wort: „as he wünskt: „Mak se to Gott!“. Fischers satten weer in’d Pott.“ Von allzu viel Gier und wie die Geschichte anders enden kann, erzählt der Autor in „Tischlein deck dich…“ und dem vermeintlichen Goldesel. Schaden und Schädling erkannt heißt es am Ende: „Beim Versöhnungsfest sogleich – isst man frisches Ziegenfleisch.“

Und wer von all den Helden- und Missetaten nicht genug abbekommen hat, darf sich auf die Seiten 58 und 59 freuen (aber vorher immer der Reihe nach!). In Hüttenbergers Verdichtung der Verdichtungen „Wolfsröschen und das rote Schneiderwittchen“ reichen bereits wenige Stichworte, die eng verwoben, eine Geschichte nach der anderen in Bewegung setzen können. Mit dieser chaotisch anmutenden Zusammenfassung und Neuinterpretation stellt der Autor unter Beweis, dass auch er es sich aufs Märchenerzählen versteht. Und darauf, pointiert alles in Frage zu stellen: „Frösche an die Wände werfen, Brüder Grimm gings auf die Nerven. Haben nie davon berichtet. Deshalb habe ichs gedichtet.“

Bezug

Das Buch ist im Verlag Otto Heinevetter (Hamburg) erschienen und ist unter der ISBN lautet 978-3-87474-361-7 gelistet. In der Hardcover-Ausgabe werden in lyrisch-verdichteter Form, und mit farbigen Illustrationen versehen, 27 Märchen auf 64 Seiten vorgestellt. Der Verkaufspreis beträgt 24,90 Euro. Jede Menge Lesungen befinden sich in Vorbereitung. Darüber, wann und wo und noch viel mehr steht im Internet auf den Seiten www.komm-mit-sagte-der-esel.com und www.michaelhuettenberger.de.

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